Sanftmut

Quelle: "GEJ 2, Kapitel 165 und 166 ", Lorber Verlag Bietigheim

165. Kapitel

[01] Auf diese Verhandlung bringen die Diener auch schon Wein und Brot und eine Menge bestens zubereiteter Fische, und alles begibt sich an den wohlbesetzten Tisch. Unsern Raphael zieht die Jarah an den Tisch und setzt ihm einen großen Fisch vor, daß er ihn äße. Aber Raphael sagt: „Liebste Schwester, das wäre wohl zuviel für ein Nachtmahl; darum lege mir einen kleineren Fisch vor!“

[02] Sagt die Jarah: „Oh, sah ich dich doch heute mittag mehrere solche Fische verzehren, und so wirst du für den Abend wohl auch mit dem zu Ende kommen! Iß nur! Siehe, mein Herr Jesus ist wohl ein endlos größerer und erhabenerer Geist denn du, und dennoch ißt Er nun schon den zweiten Fisch mit sichtbarer Lust, trinkt dazu Wein und ißt stets auch ein Stück Brot darunter; tue du desgleichen! Jetzt bist du einmal Mensch mit uns und mußt unser Menschliches darum nicht geringschätzen, weil du sonst ein erster Engel Gottes bist!“

[03] Sagt Raphael: „Nun, wenn du es schon durchaus also willst, so muß ich mich deinem Willen ja wohl fügen; denn du bist einmal schon ein zu liebenswürdiges Kind, und man kann dir aus Liebe zu dir nichts abbieten (abschlagen).“ – Darauf nahm Raphael den ganzen, wenigstens gut fünf Pfunde wiegenden Fisch in die Hand, führte ihn zum Munde und verzehrte ihn in einem kaum glaublich schnellsten Augenblick.

[04] Als solches die Jarah bemerkte, sagte sie ganz verblüfft: „Aber um des Herrn willen! Wo hast denn du den großen Fisch nun so schnell hingebracht? Freund, bei solch einer Eßfähigkeit könntest du wohl auch ein gebratenes Meerungeheuer mit großer Leichtigkeit verzehren! Der große Fisch, in dessen Bauche Jonas drei Tage schmachtete, wäre am Ende für dich nur ein Spaß, ihn mit einem Bissen in den Magen zu schieben!?“

[05] Sagt Raphael: „Auch viele Tausende von solchen Fischen wären mir sozusagen nur ein Scherz, sie unters Dach zu bringen. Aber hier genügt der mir von dir dargereichte; er hat mir wahrlich recht wohl geschmeckt. Ich hätte ihn auch langsam, dir gleich, verzehren können; aber da würdest du auf den Gedanken gekommen sein, daß ich schon völlig ein irdischer Mensch sei, – und das wäre nicht gut für dich, weil du sogestaltig in meine Person, resp. Form verliebt werden könntest! Nun ich dir aber bei Gelegenheit zeige, daß ich noch kein vollendeter Erdenmensch bin, so schreckt dich das zurück, und du bleibst dabei leicht in deinem und ich in meinem Geleise. Du wirst schon noch mehrere solcher mutwilligen Stückchen von mir erleben! So ich will, kann ich auch recht schlimm werden; aber da hat mein Schlimmsein stets einen weisen Grund.“

[06] Sagt die Jarah: „Das gefällt mir aber nicht von dir, wenn du etwa nur durch eine schlimme Handlung irgendeinen guten Zweck erreichen willst! Siehe hier den Herrn, der allein meine Liebe ist; der erreicht auch ohne eine schlimme Handlung lauter gute Zwecke! Warum du nicht? Ich bin der Meinung – und die laß ich mir nicht nehmen –, daß das Schlimme allzeit wieder Schlimmes hervorbringt, und nur das Gute wieder das Gute. Wer bei mir etwas Gutes durch etwas Schlimmes erreichen will, der irrt sich gewaltig, – und wäre er ein tausendfacher Engel! Das sage ich dir, daß du mir ja mit nichts Schlimmem kommst, sonst kannst du mir vom Halse bleiben! Ich bin nur ein schwaches Mädchen, ja ein Würmchen vor dir; aber dennoch wohnt in meinem Herzen Gottes Liebe, und diese verträgt nichts auch nur scheinbar Schlimmes. – Verstehst du, mein lieber Raphael, das?“

[07] Sagt Raphael: „O ja, das ist schon noch zu verstehen, und ich verstehe es darum auch wohl; aber daß du mich mit meiner zeitweiligen Schlimmheit nicht verstanden hast, geht klar aus dem hervor, weil du mich darob reprimandiert (zurechtgewiesen) hast; wenn du mich erst wirst verstanden haben, dann wirst du gegen mich nicht ärgerlich werden! Damit du aber siehst, daß das himmlische Schlimmsein auch eine glänzende Tugend ist, so will ich dir solches durch ein kurzes Beispiel recht handgreiflich klarmachen.

[08] Sieh, wir Himmelsgeister haben eine weite Sehe; dein Gedanke reicht nicht so weit, als wir mit einem Blicke in größter Klarheit durchschauen! Da fügt es sich denn wohl sehr oft, daß hie und da, besonders auf dieser Erde, die Menschen so recht mutwillig böse werden. Wir ziehen ihn, den Menschen, hundert Male von einer großen Gefahr zurück, aber es juckt und treibt ihn gleich wieder, sich von neuem in dieselbe Gefahr zu begeben. Wenn alles das dennoch nichts hilft, dann lassen wir endlich zu, daß der Mensch sich endlich wieder aus Mutwillen in die Gefahr begibt, und wir lassen ihn dann so recht fest anrennen, daß ihm darob nicht selten auf längere Zeit das Hören und Sehen vergeht. Und er, dadurch gewitzigt, wird dann aus der Erfahrung klug, läßt seinen Mutwillen und oft bösen Aberwitz fahren und wird dann ein wie aus sich gebesserter Mensch.

[09] So können oft die Eltern ihre Kinder nicht oft genug und hinreichend wirksam vor diesen und jenen Spielereien, die oft sehr gefährlich werden können, warnen; da kommen wir mit unserer himmlischen Schlimmheit und machen, daß sich solche Kinder bei ihren verbotenen Spielen recht empfindsam beschädigen, ja manchmal lassen wir es sogar darauf ankommen, daß dabei ein oder das andere Kind den Ungehorsam sogar mit dem Tode bezahlen muß, zum abschreckenden Beispiele für die andern. Die Kinder werden dadurch abgeschreckt, bekommen endlich eine große Furcht vor den verbotenen gefährlichen Spielen und kehren nicht mehr zu denselben zurück. Es tritt dann bei ihnen der Spruch als wirkend ein: ,Ein gebranntes Kind fürchtet das Feuer!‘

[10] Auch bei dir habe ich schon ein paar Male vor etlichen Erdjährchen eine ähnliche himmlische Schlimmheit ausgeführt, und sie hat dir sehr gute Dienste geleistet, darum du hernach bald ein wahrhaft frommes Kind geworden bist. – Nun, was sagst du jetzt zu meinem Schlimmsein?“


166. Kapitel

[01] Sagt die Jarah so halblaut, ein wenig betroffen: „Nun ja, wenn also, dann muß es wohl freilich recht sein; hättest du mir das früher gesagt, so hätte ich dir sicher nichts eingewendet! So man bei der bekannten Unantastbarkeit der Freiheit des menschlichen Willens durch alle möglichen sanften Mittel nichts auszurichten imstande ist, dann bleibt wohl freilich nichts mehr übrig, als ein schlimmes Mittel in Anwendung zu bringen. Nun, nun, wir werden uns schon noch verstehen, nur mußt du nicht gleich so heftig werden! In sanfter Redeweise gefällst du mir sehr; aber wenn du, mit deinen Worten dich förmlich überstürzend, heftig wirst, dann ist aus deinem Munde selbst die reinste Wahrheit nicht gut anzuhören.

[02] Ich meine denn also, daß in der Folge wenigstens auch alle noch so vollkommenen Geister der Himmel sich also zu reden bemühen sollten, wie da redet der Herr und Schöpfer aller Geister, Sonnen, Welten und Menschen! Des Herrn Rede in noch so ernsten Dingen klingt gleichfort so sanft, als wie sanft da ist die Wolle eines Lammes, und Seine Worte fließen wie Milch und Honigseim. Also aber sollte sich dann auch ein jeder Lehrer und Führer nach Ihm richten; denn in einem sanften Redeton liegt nach meiner Beurteilung dennoch stets die größte Kraft! Wer da schreit und heftig spricht, der beleidigt oft, wo er eigentlich heilen wollte. Sieh an das gleich freundliche Angesicht des Herrn gegen Freund und Feind; und wen kann es wundernehmen, wenn Kranke gesund werden, wenn Er sie nur ansieht?! Also, mein liebster Raphael, mußt auch du sein in Rede und Tat gegen mich und gegen jedermann, dann wird jeder deiner Tritte über diese Erde hin von Segen triefen!“

[03] Darauf ziehe Ich die Jarah an Meine Brust und sage zu allen, die hier gegenwärtig sind: „Das ist bis jetzt Meine vollendetste Jüngerin, zu der Ich wahrlich Meine Engel in die Schule senden kann; denn diese hat Mich am tiefsten ergriffen und lebendigst aufgefaßt. Aber sie besitzt darum Meine Liebe auch im vollsten Maße.

[04] Wahrlich, so ihr hinausgehen werdet und werdet lehren die Völker in Meinem Namen, da gedenket der Worte, die dies überliebe und zarte Mägdlein nun zu Meinem Engel geredet hat, und eure Schritte und Tritte werden von allem Segen begleitet sein! Seid geduldig und in allem voll Sanftmut, so werdet ihr den vollsten Segen streuen in die Herzen der Menschen! – Aber Mein Engel Raphael mußte also reden, damit er diese Meine allerliebste Jarah zu der gegebenen Lehre verlockte; im übrigen aber ist er ebenfalls so sanft wie eine sanftkühlende Abendluft und so weich wie die zarteste Wolle eines Lammes.“

[05] Diese Worte merkten sich alle wohl und waren vollkommen damit einverstanden. Nur der Hauptmann bemerkte und sagte: „Dies ist alles göttlich, rein und wahr; aber so ich eine zu sanfte Sprache redete mit meinen Soldaten, so würde ich damit wohl eine schlechte Figur machen, und die Soldaten würden mir kaum gehorchen! So ich aber so recht zu blitzen und zu donnern anfange, da geht dann alles gut und sicher!“

[06] Sage Ich: „Es ist hier aber auch nicht so sehr von einer äußeren als vielmehr von einer inneren, wahren Sanftmut die Rede. Wo es absolut nötig ist, von der himmlischen Schlimmheit einen weisen Gebrauch zu machen, da tue man das; denn die eigentliche Regel aller Weisheit ist: ,Klug sein gleich den Schlangen und dabei dennoch sanft gleich den Tauben!‘“

[07] Sagt der Hauptmann überfreundlichen Angesichtes: „Herr, nun habe ich alles; also ist durch alle Himmel hindurch gerechtfertigt die Handlung eines Gerechten! Aber man muß dabei sich auch aufs Rechnen verstehen, auf daß man sich in der vermeinten Klugheit nicht verrechne, und da meine ich nach der Kunst des Euklid, daß man zu einer bestimmten Größe von Klugheit eine gleiche Größe von Liebe, Geduld und Sanftmut hinzuaddiert, und man wird dadurch ein fehlerfreies Resultat herausbekommen!“

[08] Sage Ich: „Ja, ja, also wird die Rechnung am besten gestellt und des gesegnetsten Resultates vollkommen sicher sein, und alle Gerechtigkeit und jegliches Gericht wird darin seine volle Rechtfertigung haben! Das ist ein Grund, auf dem sich bauen läßt; wo aber kein Grund ist, da läßt sich auch kein Gebäude aufführen. Leget sonach allenthalben solchen Grund, bevor ihr bauen wollt, und eure Mühe wird keine vergebliche sein!

[09] Ihr seid aus Gott und sollet daher auch in allem Gott gleich sein; Gott aber läßt Sich Zeit im Schaffen. Zuerst wird der Same, daraus der Keim. Aus dem Keime erst erwächst der Baum; dieser aber treibt zuerst Knospen, dann Blätter, dann Blüten und endlich erst die wohlschmeckende Frucht, in die abermals der Ursame gelegt ist und zur weiteren Fortpflanzung in der Frucht ausgereift wird.

[10] Wie es aber zugeht mit einer Pflanze im kleinen, also geht es auch zu mit einer ganzen Welt. Die Sonne steigt nicht unangekündigt über den Horizont, und einem Sturme gehen allzeit warnende Boten voran, die allzeit wohl zu erkennen sind.

[11] Wenn denn Gott Selbst in allen Dingen solch eine Ordnung des Nacheinanderwerdens allerstrengst und mit der größten Geduld und Ausharrung beachtet, so werdet wohl auch ihr, als Meine wahrhaftigen Jünger, Mir in allem dem Nachfolge tun, was Ich euch gezeigt und wozu Ich euch den Weg gebahnt habe, auf daß ihr nicht irre werdet am selbstgemachten Wege! – Habt ihr alle das wohl verstanden?“

[12] Sagt der Hauptmann: „Herr, ich für meinen Teil habe alles wohl verstanden und glaube, daß sich unter uns wohl niemand mehr befindet, der diese übersonnenhellen Wahrheiten aus den Himmeln nicht verstanden hätte. Dir allein allen Dank und alle Ehre darum!“

[13] Sage Ich: „Du meinst es wohl, daß diese meine Worte alle hier Anwesenden verstanden haben?! Ja, sie haben das auch verstanden, auch der eine hat es verstanden – mit seinem Gehirne, aber nicht mit seinem Herzen!“

[14] Auf dies Wort wurden alle verlegen, und die Jünger fragten Mich, wer es sei, den Ich gemeint habe.

[15] Ich aber sagte: „Noch ist es nicht an der Zeit, solches vom Dache herab kundzutun; wenn aber die Zeit kommen wird, da werdet ihr euch dieser Meiner Worte wohl erinnern. Wer von euch aber nun irgendeine Vermutung hegt, der behalte sie in seinem Herzen; denn vor der Zeit soll kein Baum gefällt werden!“

[16] Nach solchen Meinen Worten begriffen die Jünger wohl, daß Ich den Judas Ischariot gemeint hatte; aber sie schwiegen und gaben durch kein Zeichen ihre begründeten Mutmaßungen kund.

[17] Es fragten Mich aber Matthäus und Johannes, ob sie solche herrlichste Lehre wohl aufzeichnen dürften zum Besten der Menschen.

[18] Sage Ich: „Ihr möget die Lehre der Liebe, Sanftmut und Geduld wohl auf ein eigenes Blatt vorderhand anmerken, – aber nicht zu dem im Hauptbuche bereits Geschriebenen; denn Ich werde davon noch mehrmals reden und werde es euch schon anzeigen, wann ihr es aufzuzeichnen habt. – Nun aber wollen wir ruhen und uns abermals in der inneren Selbstbeschauung üben, welche da ist eine wahre Sabbatfeier in Gott!“

[19] Auf diese Worte aus Meinem Munde ward alles stille im Hause, und wir saßen also bei drei Stunden.

[20] Nach dieser Zeit aber sagte Ich: „Nun ist der Sabbat vollbracht, und wir können nun auch unsern Gliedern eine nötige Ruhe spenden!“ – Darauf begab sich alles zur Ruhe des Fleisches, und es ward schon ziemlich spät am Morgen, als wir die Lager verließen.