Die 10 Gebote

Quelle: Erklärungen aus "GEJ 7, K28 - K37", Lorber Verlag Bietigheim

Gespräch zwischen Jesus und Helias.
Helias ist eine schöne junge Jüdin armer Eltern.

28. Erklärung der drei ersten Gebote.

[1] Sagte die Helias: »Herr und Meister, mir fängt es an zu schwindeln vor dem, was Du mir nun gesagt hast! So Du also schon ganz sicher Der bist, von dem die Propheten also geweissagt haben, - was sollen wir armen Sünder dann nun vor Dir, o Herr, anfangen?«

[2] Sagte Ich: »Nichts als Meine Lehren anhören, sie behalten und danach leben, Gott lieben über alles und seinen Nächsten wie sich selbst, und ihr habt dadurch alle die sieben Geister Gottes in euch erweckt und dadurch erlangt das ewige Leben, wie Ich solches ehedem erklärt habe, - Bist du damit zufrieden?«

[3] Sagte die Helias: »0 Herr, o Jehova, wer sollte damit nicht zufrieden sein und wer nicht befolgen Deine Lehre und Deine allerliebevollsten Gebote?! Nur fragt sich hier dennoch, ob Du, o Herr, nun durch diese zwei Gebote der Liebe nicht die zehn Gesetze und die Propheten aufhebst, weil hast, daß in diesen zwei Geboten das ganze Gesetz Mosis und alle Propheten enthalten seien.«

[4] Sagte Ich: »Du Meine liebe Helias, wie magst du um so etwas fragen! Wenn das Gesetz Mosis und alle Propheten in den zwei Geboten der Liebe enthalten sind, wie könnten sie da wohl je aufgehoben sein? Siehe, gerade wie der siebente euch wohl erklärte Geist Gottes im Menschen die sechs vorhergehenden Geister durchdringt und erfüllt und somit alle in sich aufnimmt, ebenso erfüllt die wahre Liebe zu Gott und zum Nächsten alle die vorhergehenden Gesetze Mosis und alle die Vorschriften und Ermahnungen der Propheten!

[5] Wenn Moses sagt: >Du sollst allein an e i n e n Gott glauben und keine fremden und nichtigen Götter der Heiden neben dem rechten Gott haben!<, da erfüllst du dieses erste Gebot Mosis ja dadurch mehr als vollkommen, so du Gott über alles liebst. Denn könntest du einen Gott recht über alles lieben, wenn du zuvor nicht ungezweifelt von Ihm glaubtest, daß Er wahrhaft da ist?! So du aber durch deine Liebe zu Ihm mehr als tageshell und lebendig dartust, daß du an e i n e n Gott glaubst, - wirst du aus deiner großen Liebe zu Ihm wohl imstande sein, Seinen Namen je irgend zu verunglimpfen, zu verunehren und zu entheiligen? Sicher ewig nichtl Denn was ein Mensch im höchsten Grade liebhat, das ehrt er auch stets am meisten, und er wird sogar gegen jeden bitter und sehr ernst auftreten, der es ihm gegenüber wagen würde, sein Allerliebstes irgend zu verunehren. Oder würde es dich nicht in hohem Grade empören in deinem Gemüte, wenn jemand deinen Vater, den du sehr liebhast, verunehren würde? So du aber nun Gott über alles liebst, wirst du da wohl je imstande sein, Seinen Namen irgend zu entheiligen?

[6] Wenn du das nun so recht in dir betrachtest, so mußt du schon auf den ersten Blick darüber ganz im klaren sein, wie sowohl das e r s t e als auch das z w e i t e Gesetz Mosis in dem einen Gebote der Liebe zu Gott ganz enthalten sind.

[7] So du, Meine liebe Helias, nun Gott ganz sicher über alles liebst und eben darum auch über alles ehrst, - wirst du dich da nicht gerne, und das sehr oft, von dem weltlichen Tagesgeschäft zurückziehen und dich mit dem Gegenstand deiner heißesten Liebe beschäftigen? Ja, ganz ungezweifelt wahr und sicher! Und siehe, darin besteht ja auch die wahrste und rechteste und vor Gott allein gültige Feier des Sabbats, die Moses befohlen hat! Denn an dem Tage selbst liegt wenig oder auch gar nichts, sondern allein daran, daß du am Tage oder in der Nacht in der Liebe und Ruhe deines Herzens gern an Gott denkst und dich mit Ihm unterhältst. Und siehe, wie auch das d r i t t e Gebot Mosis in dem einen Gebote der Liebe zu Gott enthalten ist!

[8] Wer sonach Gott wahrhaft über alles liebhat, der hat Ihn auch sicher erkannt und hat einen lebendigen Glauben, gibt Gott auch alle Ehre und wird Seiner sicher stets am meisten gedenken. Und wer das tut, der kann keine Sünde gegen Gott begehen. Oder kann wohl eine Braut gegen ihren Bräutigam, den sie über die Maßen liebhat und von dem sie wohlwissentlich noch mehr geliebt wird, irgendeine Sünde begehen? Nein, das sicher nicht, weil beide in ihrem Herzen völlig eins geworden sind eben durch die Liebe! Wer aber Gott wahrhaft über alles liebt und also durch die Liebe eins geworden ist mit Ihm, der wird auch seine Nebenmenschen als ihm ebenbürtige Kinder Gottes ebenso lieben, wie er sich selbst liebt, und wird ihnen das tun, was er mit klarer Vernunft will, daß die Menschen ihm tun möchten.«

 

29. Das vierte Gebot.

[1] (Der Herr-) »Siehe, im vierten Gebote ist den Kindern die Liebe gegen ihre Eltern geboten! Die Eltern sind auf der Erde wohl die ersten Nächsten ihrer Kinder und lieben sie überaus. Sie sind ihre Ernährer, Beschützer und Erzieher und verdienen darum auch sicher alle Liebe und Ehre von den Kindern.

[2] Wenn denn ein gut erzogenes Kind seine Eltern liebt und ehrt, so wird es auch bemüht sein, alles das zu tun, was den Eltern eine rechte Freude macht. Und so ein Kind wird sich darum auch ein langes und gesundes Leben und ein bestes Wohlergehen auf Erden bereiten; ein Kind, das seine Eltern liebt und ehrt, das wird auch seine Geschwister lieben und ehren und stets bereit sein, ihnen alles Gute zu tun.

[3] Ein Kind oder ein Mensch aber, der seine Eltern und seine Geschwister wahrhaft liebt und ehrt, der wird auch die anderen Menschen darum lieben, weil er weiß und erkennt, daß sie alle Kinder ein und desselben Vaters im Himmel sind. Aus der ursprünglichen wahren Liebe zu den Eltern. wird der Mensch zur Erkenntnis Gottes, seiner selbst und zur rechten Erkenntnis auch seiner Nebenmenschen geleitet und sieht dann bald und leicht ein, warum Gott die Menschen erschaffen hat, und was sie alle werden sollen. Dadurch gelangt er dann stets mehr und mehr zur Liebe zu Gott und durch diese zur Vollendung seines inneren, wahren, geistigen Lebens.

[4] Wer aber also seine Eltern, Geschwister und auch die anderen Nebenmenschen liebt und ehrt und darum auch Gott über alles liebt und ehrt, - wird der wohl je gegen jemanden eine Sünde begehen können? Ich sage es dir: Nein, denn er wird niemanden beneiden, niemanden hassen und fluchen, niemanden töten, weder leiblich noch durch ein Ärgernis seelisch. Er wird sich keusch und wohlgesittet gegen jedermann benehmen, wird jedem gerne das Seinige lassen, wird niemand belügen und betrügen, und ist er auf dem ordentlichen Wege der Mann eines Weibes geworden, oder die züchtige Jungfrau das Weib eines Mannes, so wird er kein Verlangen tragen nach dem Weibe seines Nächsten und sein Weib nicht nach dem Manne ihrer Nachbarin, und du kannst nun daraus für deinen Verstand schon ganz gut entnehmen, wie und auf welche Weise das Gesetz und alle die Propheten in den zwei Geboten der Liebe enthalten sind, und wie diese dir von Mir nun kundgegebenen zwei Gebote keine Aufhebung des Gesetzes Mosis und der anderen Propheten zulassen, sondern nur die volle Erfüllung derselben sind. - Verstehst du das nun?«

[5] Sagte die Helias: »0 Herr, Du überweiser und überguter Schöpfer und Vater aller Menschen, jetzt verstehe ich erst die Gesetze Mosis! Denn ich muß es hier selbst vor Dir ganz offen bekennen, daß ich zuvor das Gesetz Mosis und noch weniger die Sprüche und Belehrungen der andern Propheten niemals irgend recht verstanden habe. Und je öfter ich mich mit meinen Eltern, alles wohl erwägend, darüber besprach, desto mehr Lücken und wahre Unvollkommenheiten entdeckte ich darin, was mich denn auch gar nicht selten auf den Gedanken brachte, daß das sehr unvollkommen aussehende Gesetz Mosis entweder gar nicht von einem höchst weisen Gott ausgehe, oder daß die spätere Priesterkaste das Mosaische Gesetz ganz aufgegeben und dafür zu ihrem materiellen Besten ein lückenhaftes, menschliches Machwerk aufgestellt habe. Mein guter, alter Rabbi hat darum gar oft seine rechte Not mit mir gehabt, weil ich ihm die sichtbaren Mängel des Mosaischen Gesetzes ordentlich an den Fingern nachwies. Aber jetzt nach Deiner Erklärung, o Herr, hat das Gesetz Mosis freilich gleich ein ganz anderes Aussehen bekommen und kann auch von jedermann sicher freudig und leicht beachtet werden!«

[6] Sagte Ich mit sehr freundlicher Miene: »Nun, du Hauptkritikerin des Mosaischen Gesetzes, was fandest du denn gar so Unvollkommenes und Lückenhaftes am Mosaischen Gesetze? Lasse auch uns deine Kritik hören!«

[7] Sagte die Helias unter der allgemeinen Aufmerksamkeit aller Anwesenden: »0 Herr, was soll ich wohl reden vor Dir, der Du meine Gedanken sicher schon lange eher gekannt hast, als ich sie noch gedacht habe? Auch jener allmächtige und allwissende Jüngling dort wird das schon alles bis auf ein Haar genau wissen, und so meine ich, daß daher solch eine laute Kundgabe meiner Kritik über das Mosaische Gesetz ganz unterbleiben könnte.«

[8] Sagte Ich: »0 nein, Meine gar sehr liebe Helias, die Sache verhält sich hier ganz anders! Ich und jener Jüngling wissen freilich gar wohl darum, worin deine Kritik übers Mosaische Gesetz und auch über die Propheten besteht; aber die andern, mit Ausnahme deiner Eltern und deines Bruders, wissen das nicht, möchten es aber nun, da du selbst die Wißbegierde in ihnen erweckt hast, wohl wissen, und darum habe Ich dich denn auch aufgefordert, daß du auch uns laut hören läßt deine Kritik über das Gesetz Mosis und über so manche Propheten. Und also öffne du nur deinen Mund und sprich ohne allen Hinterhalt alles aus, was dir am Gesetz und an den Propheten mangelhaft vorkommt, und zeige uns ganz beherzt des Gesetzes und der Propheten Lücken!«

 

30. Die Kritik der Helias über das vierte Gebot.

[1] Sagte die Helias: »Herr, so ich das tue, was Du von mir verlangst, da sündige ich sicher nicht, und so will ich denn auch ganz offen meine am Gesetze und an den Propheten gefundenen Lücken und Mängel kundtun!

[2] Siehe, den ersten und mir ganz bedeutend vorkommenden Mangel und eine große Lücke am Gesetze merkte ich, und zwar als ein früh reif und ziemlich klar denkendes Kind, gleich am vierten Gebote Mosis darin, daß der Mann Gottes wohl den oft noch sehr begriffsmageren und schwachen Kindern die Liebe, den Gehorsam und die Ehrfurcht zu und vor den Eltern einschärft, aber dagegen den Eltern gegen ihre Kinder im Gesetze nahe gar keine Verpflichtung auferlegt! Und so sieht denn solch ein Gesetz doch ein wenig sonderbar aus, zumal es denn im allgemeinen doch nur zu oft Eltern gibt, deren Kinder oft schon in der Wiege vernünftiger und besser waren als ihre gar dummen und mit allen Schlechtigkeiten vollgefüllten Eltern.

[3] Ein Kind hat oft einen von Natur aus guten und edlen Sinn und könnte, wenn es im selben fortgebildet würde, eben auch zu einem guten und edlen Menschen werden. Aber da muß das Kind nach dem Gesetze Mosis nun ein für alle Male seinen dummen und bösen Eltern strengweg und ohne jede vernünftige Ausnahme gehorchen und am Ende ebenso dumm und böse werden, als wie dumm und böse da des Kindes Eltern sind. Da hätte der Mann Gottes wohl schon auch von einer rechten Pflicht der Eltern gegen ihre Kinder etwas einfließen lassen können, nach deren gewissenhafter Erfüllung erst die Kinder auch ihren Eltern als gegenverpflichtet zu bezeichnen gewesen wären.

[4] Oder sind nach Moses auch Kinder der Räuber aus schuldigem Gehorsam gegen ihre Eltern verpflichtet, sie zu lieben, zu ehren und in die Fußstapfen ihrer Alten zu treten? Wenn - was sich schon gar oft ereignet hat -vernünftige Kinder böser und arger Eltern, deren schwarzes Tun und Treiben den noch mehr unschuldigen Kindern auffallen und mißfallen mußte, darum eben solchen argen Eltern Liebe und Gehorsam versagten, sie verließen und Gelegenheit suchten, sich anderorts unter besseren Menschen selbst zu besseren Menschen umzugestalten, - haben solche Kinder sich dadurch auch versündigt am Mosaischen Gesetze, weil sie nicht auch aus Liebe und Gehorsam zu ihren Eltern selbst Diebe, Räuber, Mörder, Heuchler, Betrüger und Lügner werden wollten?

[5] Wenn Moses und die Propheten auch da solchen besseren Kindern eine Strafe bestimmen und ihnen ihre Unliebe und ihren gerechten Ungehorsam gegen ihre bösen Eltern zur Sünde rechnen, so sind Moses und alle die Propheten noch um tausend Male dümmere und blindere Menschen gewesen denn ich und haben mit ihren Schriften und Weissagungen der göttlichen Weisheit wahrlich keine absonderlich große Ehre gemacht! - Herr, bin ich darum schlecht, weil ich das Gesetz Mosis und der Propheten also beurteilt habe?«

[6] Sagte Ich: »Oh, durchaus nicht, weil du da ganz recht und richtig geurteilt hast! Aber dennoch ist deine Kritik darum nicht völlig in der Ordnung, weil Moses durch Meinen Geist nur zu klar einsah, daß es eben nicht nötig ist, den Eltern noch eigens die Liebe zu ihren Kindern zu gebieten, weil solche den Eltern ohnehin im Vollmaße schon von Mir aus gewisserart instinktmäßig eingepflanzt worden ist, was aber eben bei den Kindern, die erst in die Schule dieses irdischen Lebens gekommen sind, nicht so sehr der Fall sein kann, weil diese erst für die rechte und wahre Liebe erzogen werden müssen.

[7] Darum kommt ja eben auf dieser Erde ein jeder Mensch so schwach und ganz ohne Erkenntnis und Liebe ins Weltleben, daß er sich dann in aller wie immer gearteten Zwanglosigkeit, als wäre er von Gott ganz verlassen, durch äußere Lehre, durch Gesetze und durch seinen freiwilligen Gehorsam zu einem freien und ganz selbständigen Menschen bilde.

[8] Und sieh, darum müssen denn auch nur besonders den Kindern zumeist Lehren und Gesetze gegeben werden und nicht sosehr den Eltern, die einst auch Kinder waren und durch die Lehren und Gesetze, für Kinder gegeben, erst zu freien und selbständigen Menschen geworden sind!

[9] Was aber insbesondere die Pflichten der Eltern gegen ihre Kinder betrifft, so haben Moses und die Propheten schon in den staatlichen Gesetzen dafür gesorgt, die du freilich noch nicht gelesen hast. Aber es ist da rechtzeitig schon für alles gesorgt, und es können sich zwei nicht wohl ehelichen, wenn sie dem Priester nicht zuvor dartun, daß sie in den zur Ehe nötigen staatlichen Gesetzen wohlbewandert sind.

[10] Und so siehe, du Meine liebe Helias, daß deine Kritik in bezug auf das vierte Gebot Mosis eben nicht zu sehr in der rechten Ordnung war, und Ich habe nun die Lücken und Mängel beseitigt. Aber du fahre nun mit deiner Kritik nur auch über die anderen Gesetze fort, und Ich werde dir dann schon wieder sagen, inwieweit du recht oder auch nicht recht hast!«

[11] Sagte Helias: »0 Herr, warum soll ich da meine dumme Kritik noch weiter fortsetzen? Denn ich sehe es nun ja schon im vorhinein nur zu klar ein, daß Du mir abermals haarklein zeigen wirst, wie ganz unrichtig und geistlos ich geurteilt habe.«

[12] Sagte Ich: »Nun, was kann dir oder jemand anderem das wohl schaden? Denn darum bin Ich ja in diese Welt gekommen, auf daß Ich euch von allen den vielen Irrtümern frei mache durch das lebendige Licht der Wahrheit. Kommst du mit deinen scheinbar recht wohl begründeten Bemängelungen des Gesetzes und der Propheten nicht an das Tageslicht, so bleiben sie in dir und können noch gar wohl verkümmern das Leben deiner Seele; entäußerst du dich aber ihrer, so bist du auch von ihnen los, und das Licht der ewigen Wahrheit wird dafür Wohnung nehmen in deinem Herzen. Daher rede und kritisiere du nur fort, und das ohne irgendeinen Rückhalt, und .Ich werde dir dann schon wieder ein rechtes Licht geben! Denn sieh, es ist das sogar eben jetzt recht notwendig, weil viele hier sind, die schon lange gleich wie du Moses und die Propheten bemängelt haben! Daher öffne du nur wieder deinen schönen Mund und rede mit deiner gewandten Zunge!«

 

31. Das fünfte Gebot.

[1] Sagte die Helias: »0 Herr, wie früher, so sage ich jetzt: Wer das tut, was Du willst, der sündigt wahrlich nicht! Und so nehme ich denn das fünfte Gebot Mosis her und sage: Da steht geschrieben: >Du sollst nicht töten!< Ich nehme aber hier nur auf das einfache Gesetz meine kritische Rücksicht und kümmere mich vorderhand gar nicht darum, was Moses oder auch später ein anderer Prophet Erklärendes darüber gesagt und geschrieben hat; denn es muß ja ein wahrhaft göttliches Gebot doch selbst in seiner möglichsten Einfachheit das in sich fassen, was vernünftigermaßen einem jeden Menschen frommen kann. Aber dieses Gebot enthält das ganz und gar nicht, und so kann ein denkender Mensch von ihm unmöglich etwas anderes sagen und behaupten, als daß es entweder ein menschliches Werk ist oder daß - auch erst später, etwa des Kriegführens wegen - von den Menschen etwas davon weggelassen worden ist.

[2] Du sollst nicht töten! Wer ist denn erstens eigentlich der >Du<, der nicht töten soll? Gilt das für jeden Menschen ohne Unterschied des Geschlechtes, Alters und Standes oder nur für das männliche Geschlecht und für ein gewisses Alter und für einen gewissen Stand? Und zweitens: Wen oder was soll man denn so ganz eigentlich nicht töten? Bloß die Menschen nicht, oder auch die Tiere nicht? Nach meinem Urteil will weder das eine noch das andere darunter verstanden sein.

[3] Das Menschentöten nicht, weil schon Josua die Stadt Jericho zerstört und ihr Volk getötet hat, und das auf Jehovas Geheiß. Die Schlachtung der Götzenpriester durch die Hand des großen Propheten Elias ist bekannt. Sehen wir dann auf den König David, den Mann nach dem Herzen Gottes, der andern gar nicht zu gedenken! Wie viele Tausende und Hunderttausende sind durch ihn getötet worden, und wie viele werden in jedem Jahre jetzt noch getötet! Die Mächtigen der Erde haben trotz des ganz kategorisch ausgesprochenen göttlichen Gesetzes dennoch das vollste Recht von Gott aus, ihre Nebenmenschen zu töten. Und so geht dieses Gesetz nur die bedrückten, armen Teufel von Menschen an. Inwieweit dieses Gesetz auch das Weib angeht, ist da gar nicht zu ermessen, obwohl die Chronika auch nachweist, daß auch die Weiber mit dem Schwerte gewirtschaftet haben, und das wie!

[4] Ob wir armen Menschen auch die Tiere nicht schlachten und töten sollen, das, meine ich, ist nicht einmal einer Besprechung wert; denn das lehrt die Menschen die Natur, daß sie sich ohne Unterschied des Standes Geschlechtes und Alters gegen die vielen bösen Tiere auf Leben und Tod zur Wehr setzen müssen, so sie nicht allerwegs von den zu überhandgenommen habenden bösen und reißenden Bestien angefallen, zerrissen und gefressen werden wollen.

[5] Du sollst nicht töten! So ich aber von einem wilden Straßenräuber angefallen werde, der mich berauben und dabei ganz sicher töten will und wird, - ich aber, als die Angefallene oder der Angefallene, habe Kraft, Mut und eine Waffe, um ihn eher zu töten, als er mir den Todesstreich versetzen kann, - was soll ich da wohl tun? Diese Notwehr sollte im Gesetze doch insoweit ausgedrückt sein, daß es hieße: >Du sollst nicht töten, außer im Falle der äußersten Notwehr!< Aber nein, von dem steht im Gesetze wahrlich keine Silbe! Es heißt nur ganz einfach: >Du sollst nicht töten!< Wenn aber das einfache Gesetz also lautet, wo steckt da im selben die göttliche Liebe und Weisheit, die denn doch wissen mußte, unter welchen wahrlich höchst bedauerlichen Verhältnissen die Menschen auf dieser Erde ihr Leben durchzumachen haben?

[6] Warum gab denn Gott ein solches Gesetz und befahl dann Selbst einem David, die Philister und Moabiter gänzlich zu vernichten? Warum durfte die Judith den Holofernes töten, und warum darf nicht auch ich sündefrei jemandem das Leben nehmen? Wer gab denn den Ägyptern, den Griechen und den Römern das Recht, jeden zu töten, der sich gröblich an ihrem Gesetze versündiget?«

[7] Hierauf sah sie um sich, um zu sehen, was alle die andern zu ihrer Kritik für Gesichter machten.

[8] Beinahe alle gaben ihr recht, und einer der Pharisäer, der ein Schriftgelehrter war, sagte: »Ja, ja, man kann in dieser Sache, mit unseren menschlichen Begriffen betrachtet, dem schönen Kinde nicht völlig unrecht geben; denn das Hauptgesetz lautet einmal buchstäblich also, obschon nachträglich in den Büchern Mosis alles gezeigt ist, wie dieses Gebot zu nehmen und zu halten ist. Aber ein primitives Haupt- und Grundgesetz sollte wahrlich das Wesentliche, das es verlangt und will, wenigstens mit den höchst nötigsten Nebenumständen schon ausgedrückt in sich fassen; denn jede spätere und nachträgliche Beleuchtung und größere Vervollständigung eines einmal gegebenen Gesetzes scheint zu sagen, daß der Gesetzgeber beim Geben der Grundgebote noch nicht an alles gedacht hat, was er durch das gegebene Gebot eigentlich gebieten und verbieten wollte.

[9] Nun, bei Menschen, wenn sie Gebote geben, ist das begreiflich, weil in ihrem Denken und Wollen keine göttlich helle Vollendung sein kann, und es ist auch ganz natürlich, daß bei menschlichen Gesetzen dann nachträglich allerlei Zusätze und Erläuterungen zum Vorschein kommen müssen; aber bei einem wahrhaft göttlichen Gesetze sollte wahrlich keine Lücke alsogestaltig vorkommen, daß sie erst hinterdrein mit allerlei Zusätzen und Erläuterungen ausgefüllt werden soll! Ja, die Sache also betrachtet, könnte man wahrlich beim Mosaischen Gesetze auf die Idee gebracht werden, daß es entweder gar kein rein göttliches ist, oder daß es als solches durch den selbstsüchtig bösen Willen der Menschen also entstellt worden ist. Doch ich will damit kein Urteil über das Gesetz gefällt, sondern nur meine bisher noch sicher sehr blinde Meinung ausgesprochen haben.«

[10] Sagte Ich: »Ja, das sicher; denn wenn ihr Meine Gesetze mit menschlichen Sinnen beurteilt, dann müsset ihr freilich wohl Lücken und Mängel darin entdecken. Wenn du deinen Nächsten liebst wie dich selbst, so wirst du ihn nicht hassen, nicht anfeinden und ihm keinen Schaden zufügen; tust du das aber, so wirst du ihn um so weniger je irgendwann weder leiblich und noch weniger seelisch durch allerlei Ärgernisse töten wollen.

[11] Du sollst nicht töten! Das ist ganz richtig und wahr also gegeben im Gesetze. Aber warum? Weil unter >töten< schon von uralters her Neid, Scheelsucht, Zorn, Haß und Rache verstanden ward.

[12] >Du sollst nicht töten!< heißt demnach soviel wie: Du sollst niemanden beneiden, sollst den Glücklicheren nicht mit scheelen Augen ansehen und sollst nicht im Zorn erbrennen wider deinen Nebenmenschen; dennaus dem Zorn entsteht der Haß, und aus dem Haß geht die böse, alles verheerende Rache hervor!

[13] Es steht ja auch geschrieben: >Mein ist der Zorn, und Mein ist die Rache, spricht der Herr.<

[14] Ihr Menschen aber sollet euch in aller Liebe achten, und es soll einer dem andern gute Dienste erweisen; denn ihr alle habt an Mir e i n e n Vater und seid somit gleich vor Mir! Ihr sollet euch untereinander nicht ärgern und lästern und einer soll dem andern durch bösen Leumund nicht die Ehre abschneiden; denn wer das tut, der tötet die Seele seines Nebenmenschen,

[15] Und seht, alles das ist kurz in dem Bilde >Du sollst nicht töten!< ausgedrückt! Und die ersten Juden, auch noch die zu den Zeiten Salomos, verstanden dieses Gesetz nicht anders, und die Samariter als die Altjuden verstehen es heutzutage noch also. Wenn aber dieses Gesetz vom Fundamente aus nur also zu verstehen ist, - wie kann jemand da annehmen, daß durch dieses Gesetz dem Menschen die Notwehr gegen böse Menschen und sogar gegen reißende Tiere untersagt sei?«

[16] Sagte die Helias: »Ja, Herr, das sehen wir nun sicher alle recht gut ein, weil Du uns das nun in der vollkommen rechtesten und wahrsten Weise erklärt hast; doch ohne diese Deine gnädigste Erklärung hätten wir das eben nicht zu leicht ins reine gebracht. Warum hat denn Moses mit dem Gesetze nicht auch sogleich eine solche Erläuterung gegeben? Denn er als ein Prophet mußte das ja doch auch schon zum voraus eingesehen haben, daß die späteren Juden das einfache Gesetzesbild nicht also verstehen würden, wie es die Juden zu seiner Zeit sicher verstanden haben.«

[17] Sagte Ich-. »Ja, du Meine liebe Kritikerin, das hat Moses wohl eingesehen, und er hat darum auch eine große Menge Erklärungen für die Zukunft niedergeschrieben; aber dafür, daß du sie bis jetzt noch nicht gelesen hast, kann weder Moses noch Ich.

[18] Es war aber deine Kritik dennoch ganz gut, weil du eben die Mängel und Lücken aufgestellt hast, die zwar nicht am Gesetze, aber desto mehr in eurer Erkenntnis haften, und um diese auszufüllen, lasse Ich ja eben von dir das alte Mosaische Gesetz kritisieren.

[19] Und da wir nun sogestaltig auch das fünfte Gebot ins reine gestellt haben, so kannst du dich nun schon über das sechste Gebot machen und auch an diesem die gewissen Mängel und Lücken zeigen, so du deren auch irgendwelche entdeckt hat. Und sorede denn !

 

32. Das sechste Gebot.

[1] Sagte die Helias: »0 Herr und Meister, sieh, ich bin eine Maid und habe noch nie einen Mann erkannt; daher würde es sich etwa wohl nicht ganz besonders schicken, so ich über das sechste Gebot meine Bemerkungen machen würde! Ich möchte Dich darum bitten, daß Du, o Herr, mir erlassen möchtest, über dies sechste Gebot zu reden.«

[2] Sagte Ich: »0 du Meine liebe Tochter, so du geheim bei dir von diesem Gebote durchaus keine Kenntnis besäßest, so ließe Ich dich auch wahrlich nicht davon reden; aber weil du dieses Gebot wohl kennst, obwohl du mit einem Manne noch nie etwas zu tun gehabt hast, so kannst du geziemend schon auch von diesem Gebote reden. Und so rede du nur zu nach deiner Weise!«

[3] Sagte die Hellas wieder ihren Spruch: »0 Herr, wer Deinen Willen tut, der begeht keine Sünde! Und so will ich denn auch reden in wohlgeziemender Weise. >Du sollst nicht ehebrechen!<, also lautet buchstäblich das sechste Gebot. Nach dem aber, wie es mir mein Rabbi lehrte, hieß es auch: >Du sollst dich keusch und rein verhalten vor Gott und vor den Menschen; denn wer da unkeusch und unrein lebt und handelt, der ist ein Sünder so gut wie ein Ehebrecher, ein Unzüchtler und ein Hurer!< Das waren die Lehrworte meines Rabbi.

[4] Ich habe da nichts anderes zu bemängeln, als daß erstens Moses in der Aufstellung der Grundgebote in seinem zweiten Buche, 20. Kapitel, nur den Ehebruch verbietet, obwohl er dann im dritten Buche, etwa vom 18. Kapitel an sehr ausführlich davon redet, - was ich aber auch noch nicht gelesen habe, weil mein Rabbi solches für mich nicht gut fand. Und zweitens gab Gott durch Moses dies Gebot wie mehrere andere dem (hebräischen) Wortelaute nach immer nur dem männlichen Geschlecht und gedachte nur selten des Weibes.

[5] Wer ist der >Du<, der nicht ehebrechen soll? Es ist im Gesetze das einzelne Gebot nur auf e I n e n Menschen oder nur auf e I n Geschlecht gerichtet, und das offenbar auf das männliche, und es ist des Weibes nicht gedacht. Man kann da freilich wohl sagen: Wenn der Mann nicht ehebrechen darf, so kann das auch kein Weib, weil es ohne einen Mann nicht sündigen kann. Aber meines Erachtens ist eben das Weib durch seine Reize das den Mann am meisten zum Ehebruch verlockende Element, und so sollte denn auch besonders zum Weibe gesagt werden, daß es keinen Mann zum Ehebruch verleiten und auch selbst die Ehe nicht brechen soll. Denn wo das Weib dem Manne völlig treu ist, da wird sicher bald allenthalben von einem Ehebruch keine Rede mehr sein. Aber im Grundgesetze bildet das Weib förmlich eine Ausnahme, und es wird seiner auch nur erst in den späteren Verordnungen Mosis gedacht.

[6] Ich möchte aber denn nun wissen, warum das also geschah! Und warum gedachte Moses im Gesetz um vieles seltener des Weibes als des Mannes? Gehört denn das Weib weniger zum Menschengeschlecht als der Mann?«

[7] Sagte Ich: »Nun, diese deine Bemängelung läßt sich noch hören, obwohl auch sie nur so neben der Wahrheit einherschreitet. Sieh, auch hier steckt schon wieder die wahre und reine Nächstenliebe im Vordergrunde, und diese betrifft das Weib ebenso wie den Mann!

[8] So zum Beispiel du das Weib eines ordentlichen Mannes wärst, - würde es dir wohl eine Freude machen, so das Weib deines Nachbarn deinen Mann begehrte und mit ihm triebe, was nicht recht wäre? Wenn du aber in deinem Herzen das sicher nicht wünschen könntest, daß dir so etwas geschehen solle, so mußt du auch gegen deine Nachbarin dich ebenso verhalten, wie du wünschest, daß diese sich gegen dich verhalten soll. Und was also da im Gesetze gesagt ist dem Manne, das gilt auch im gleichen Maße für das Weib.

[9] Gott gab nur darum dem (hebräischen) Wortlaute nach das Grundgesetz wie allein dem Manne, wie er dem Haupte des Menschen die Hauptsinne gab und durch sie den Verstand im Gehirn. Wie aber Gott vorerst nur zum Verstande des Menschen redet, so redet Er auch zum Manne, der fortan das Haupt des Weibes ist wie das Weib gewisserart des Mannes Leib. Wenn nun eines Menschen Haupt erleuchtet und sehr verständig ist, - wird da nicht auch im gleichen Maße mit verständig sein der ganze Leib?

[10] Wenn des Menschen Verstand wohl erleuchtet ist, so wird auch bald wohl erleuchtet werden des Menschen Herz, das sich der Ordnung des Verstandes gerne fügen wird. Das Weib aber entspricht auch dem Herzen des Mannes; und wenn also der Mann als das Haupt wohl erleuchtet ist, so wird auch das Weib als sein Herz ebenso wohl erleuchtet werden und sein.

[11] Es steht aber ja schon von alters her geschrieben, daß Mann und Weib seien ein Leib. Was sonach zum Manne gesagt ist, das ist auch gesagt zum Weibe.

[12] Und siehe, damit habe Ich dir nun auch die Nichtigkeit dieses deines Zweifels erwiesen und habe dir gezeigt das rechte Licht des Gesetzes, das du sicher gar wohl verstanden hast. Und da du solches wohl verstanden hast, so kannst du nun schon mit deiner Kritik weitergehen.«

 

33. Das siebente Gebot.

[1] (Der Herr:) »Was findest du etwa im siebenten Gebote Mangelhaftes oder dir wenigstens Unverständliches? Rede du nur mutvoll darauflos; denn deine Bemängelungen und deine Zweifel sind auch noch Mängel und Zweifel in dem Gemüte vieler hier Anwesenden. Wie lautet wohl das siebente Grundgebot Mosis?«

[2] Sagte Helias: »0 Herr, bei diesem Gebote finde ich nun, nachdem ich von Dir das richtige Licht erhalten habe, gar keine Mängel und Lücken mehr! Es heißt: >Du sollst nicht stehlen!< Da ist ja schon wieder die wahre Nächstenliebe von oben an in die volle Betrachtung zu ziehen! Denn was ich vernünftigermaßen durchaus nicht wünschen kann, daß es mir geschehe, das darf ich auch meinem Nächsten nicht tun; und so sehe ich nun von neuem, wie das ganze Gesetz Mosis und sicher auch alle Propheten in Deinen zwei Geboten der Liebe enthalten sind. Ich merke nun auch, daß das Gebot der Nächstenliebe rein aus der Barmherzigkeit als aus dem mächtigsten siebenten Geiste Gottes im Menschenherzen hervorgeht und alle die früheren sechs Geister durchdringt und belebt und den ganzen Menschen erst gut und wahrhaft weise macht. Wer aber gut und weise ist, der wird sich sicher nimmer irgend an dem vergreifen, was seines Nächsten ist. Und so ist auch das siebente Gebot schon ganz in der Ordnung, und ich finde nichts, was daran mangelhaft wäre.«

[3] Sagte Ich: »Gut, Meine Mir nun schon viel liebere Helias, diese deine nun angestellte Kritik über das mosaische, rein göttliche, und somit auch makellos weiseste Gesetz zum wahren Wohle der Menschen ist Mir um gar unglaubbar vieles werter als alle deine früheren Kritiken. Aber es soll uns das durchaus nicht abhalten, die noch übrigen drei Gebote einer recht scharfen Kritik zu unterwerfen, und so gehen wir denn auch gleich zum achten Gebote über! Wie lautet wohl dieses? Rede du nun nur ganz keck weg, wie ,dir die Zunge gewachsen ist, und du wirst Mir dadurch eine rechte Freude machen!«

 

34. Das achte Gebot.

[1] Hier faßte das Mädchen mehr Mut und sagte zu Mir ganz zutraulichen Blickes: »Ja, Du mein allerliebenswürdigster Herr, wenn ich Dich, der Du wir so unendlich tief ins Herz hineingewachsen bist, nur etwa nicht beleidigen würde, so möchte ich Dir schon noch etwas sagen übers achte Gebot; aber vor Dir, o Herr, - Jehova nun leibhaftig vor uns - muß man sich sehr zusammennehmen, daß man Deiner inneren, göttlichen Heiligkeit ja nicht zu nahe tritt! Und da ist es etwas hart und schwer, so ganz von der Leber weg zu reden!«

[2] Sagte Ich: »0 du herzliche, liebe Seele, das hast du von Mir aus wahrlich ewig nie zu fürchten; darum rede du nun nur ganz keck von der Leber weg!«

[3] Sagte Helias mit einem äußerst liebfreundlichen Gesicht: »0 Herr, wer Deinen Willen tut, der sündigt nicht, und so will ich denn reden! Das achte Gebot lautet ganz einfach: >Du sollst kein falsches Zeugnis geben!< Und weil in der Schrift nicht näher bezeichnet ist, über wen alles man kein falsches Zeugnis geben soll, so versteht sich das ja auch schon von selbst, daß man auch über sich selbst kein falsches Zeugnis geben soll. Denn das hat mir mein alter Rabbi gar sehr oft gesagt, daß die Lüge eine allerabscheulichste Sünde ist; denn von ihr stammt alle böse List, aller Betrug, aller Zwist, Zank, Hader, Krieg und Mord. Man soll allzeit die Wahrheit im Munde führen und reden, was man ganz bestimmt weiß und fühlt, und sollte das auch irgendwann zu unserem irdischen Nachteile gereichen! Denn ein wahres Wort hat vor Gott einen viel größeren Wert als eine ganze Welt voll Gold und Edelsteine. Es ist somit auch ein jedes unwahre Wort über sich selbst ein von Gott verbotenes falsches Zeugnis.

[4] Und ich nehme somit auch hier gar keinen Anstand, Dir, o Herr, gerade ins Angesicht zu sagen, daß ich Dich wirklich über gar alles liebe! Oh, dürfte ich Dich so an mein Herz drücken, wie ich möchte, oh, so könnte ich sterben vor süßester Wonne! Sieh, o Herr, hier habe ich über mich selbst sicher kein falsches Zeugnis gegeben! Und wie ich über mich kein falsches Zeugnis ablege, so lege ich auch über meinen Nächsten nie ein falsches Zeugnis ab! Und es muß dahinter ebenso der siebente Geist Gottes tätig sein wie bei den anderen Gesetzen. - 0 Herr, habe ich Dich jetzt etwa doch nicht irgend beleidigt?«

[5] Sagte Ich: »0 mitnichten, du Meine liebe Tochter; denn wie sehr du Mich auch immer liebst, so liebe Ich dich dennoch um ein dir Unbegreifbares mehr! Mit unserer gegenseitigen Liebe wären wir beide denn nun schon ganz im reinen, aber mit dem achten Gebote hoch nicht so völlig! Und so höre denn, Ich will dich auf etwas noch aufmerksam machen!

[6] Du würdest zum Beispiel von irgendeinem Richter befragt werden, ob du ein geheimes, großes Verbrechen, das etwa ein dir sehr teurer und liebster Anverwandter begangen hätte und von dem du wohl eine Kenntnis haben könntest, nicht näher kennest, und ob du nicht angeben könntest, wo sich der Verbrecher aufhalte, weil man seiner noch nicht habe habhaft werden können. Nun setze Ich bei dir aber den Fall, daß du sowohl über das Verbrechen deines sehr nahen Anverwandten, wie auch über seinen verborgenen Aufenthalt in ganz genauer Kenntnis wärst! Was würdest du dem Richter sagen, der dich darum befragt hat?«

[7] Sagte ganz beherzt die Helias: »Herr, so auch dieses achte Gebot auf der reinen Nächstenliebe fußt, da man nur dar-um über niemand ein falsches Zeugnis geben soll, um ihm dadurch nicht zu schaden, so kann doch umgekehrt dieses achte Gebot nicht eine Bedingung aufstellen, daß man dann durch eine rücksichtsloseste Wahrheit seinem Nächsten schaden soll! In einem solchen Falle würde ich mit der Wahrheit ewig nicht zum Vorschein kommen! Denn wem kann ich dadurch nützen? Dem strafsüchtigen Richter sicher nicht, weil er dabei nichts gewinnen kann, ob er den armen Verbrecher in seine Hände bekommt oder nicht, und dem armen Verbrecher, der sein Verbrechen irgend bereut und sich ernstlich bessert, noch weniger! Denn so ich ihn in die Hände des Richters liefere, dann ist er verloren vielleicht für ewig, was ich sogar dem nicht wünschen würde, der an mir selbst ein Verbrechen begangen hätte. Also in dem Falle würde ich der Wahrheit offenbar den Rücken zuwenden und an dem armen Verbrecher selbst um den Preis meines Lebens keine Verräterin machen!

[8] Wenn nach Deiner Erklärung, o Herr, die Nächstenliebe darin besteht, daß man seinem Nächsten alles das tun soll, was man wünschen kann, daß er es auch unsereinem tun möchte, so kann mir selbst der allergerechteste Gott nicht verargen, wenn ich sogar meinem größten Feinde das nicht antun möchte, was ich in seiner Lage sicher auch nicht wünschen könnte, daß ein anderer Nächster an mir einen Verräter machte. Zudem bedarf Gott, um irgendeinen groben Sünder zu züchtigen, weder eines weltlichen Richters und noch weniger eines verräterischen Leumundes. Er, der Allwissende, der Allergerechteste und Allmächtige, wird den Verbrecher schon auch ohne einen Weltrichter und ohne meinen Mund zu züchtigen verstehen! Es ist Ihm bis jetzt noch keiner durchgegangen, und so wird Ihm auch in der Folge keiner durchgehen!

[9] Nun aber frage ich Dich, o Herr, ob Isaaks Weib dadurch vor Gott gesündigt hat, daß sie den alten blinden Isaak dadurch offenbar belog und betrog, daß sie ihm zur Erteilung und Gewinnung des Vatersegens den zweitgeborenen Sohn Jakob für den erstgeborenen rauhen Sohn Esau hinstellte! Ich hatte das für einen offenbaren Betrug, und doch sagt die Schrift, daß solches nach dem Willen Jehovas geschah. War aber das recht und gerecht vor Gott, so wird es auch recht und gerecht vor Dir, o Herr, sein, so ich da mit der Wahrheit innehalte, wenn ich durch sie meinem Nächsten, der mir sogar niemals ein Leid angetan hat, nichts nützen, sondern nur ungeheuer schaden muß!

[10] Ich bin nun der Meinung, daß, wenn Gott und Moses in dem achten Gebot keine Ausnahme gestellt haben, eben in diesem Gebote eine große Lücke offengeblieben ist, die allein durch Dein Gebot der Nächstenliebe

gefüllt werden kann und auch ausgefüllt werden muß. - Habe ich recht oder nicht?«

[11] Sagte Ich: »Einesteils wohl, aber andernteils auch wieder nicht! Denn siehe, der Verbrecher wäre nach seiner Flucht kein besserer Mensch geworden, sondern würde, dir etwa nicht unbekannt, noch mehrere und größere Verbrechen zum Schaden vieler Menschen verüben! So du aber dann dem Gerichte kundtätest, wo sich der Verbrecher aufhält, damit dann das Gericht sicher nach ihm fahnden kann, so würdest du dadurch ja viele

Menschen vor großem Unglücke retten und ihnen dadurch einen großen Liebesdienst erweisen. Was meinst du zu diesem sehr leicht möglichen Falle?«

[12] Hier stutzte die Helias und wußte nicht so ganz recht, was sie darauf erwidern sollte. Erst nach einer Weile tieferen Nachdenkens sagte sie:>>Nun, wo eines schlechten und unverbesserlichen Menschen wegen viele Unschuldige leiden müßten, da sagt die Vernunft, daß es besser sei, so dieser eine wohlverdientermaßen leidet. Da ist es dann eben wieder infolge der wahren Nächstenliebe angezeigt, die Wahrheit, wenn sie verlangt wird, zu reden. Ob man aber bei solch einer Angelegenheit einen freiwilligen Verräter machen soll, das hast Du, o Herr, allein zu bestimmen!«

[13] Sagte Ich: »Dazu sei von Mir aus niemand verhalten, sondern das steht euch frei! Und so gehen wir zum neunten Gebote über! Wie lautet es?«

 

35. Das neunte und zehnte Gebot.

[1] Sagte die Helias: »0 Herr und Meister, bei dem neunten und zehnten Gebote finde ich gleich von vornherein einen wahrlich nicht unbedeutenden Anstand, und der besteht darin, daß wir Neujuden nun ein neuntes und zehntes Gebot haben, während Moses doch nur ein neuntes Gebot zum Schlusse seiner Grundgesetzgebung gab. Das gesamte neunte Gebot aber lautet: >Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses, laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes, noch seines Knechtes noch seiner Magd, noch seines Ochsen noch seines Esels, noch alles dessen, was der Nächste hat!<

[2] Mit dem hat die Grundgesetzgebung ihr Ende; denn gleich darauf floh nach der Erzählung Mosis das Volk aus Furcht vor den Blitzen, Donnern, vor dem Posaunenschall und vor dem gewaltigen Rauchen des Berges und bat Moses, daß er allein mit Gott reden solle - denn so es noch länger Gottes alles erschütternde Stimme anhören solle, dann würde alles Volk sterben vor zu großer Angst und Furcht -, worauf dann Moses das Volk beruhigte und vertröstete. Von einem weiteren zehnten Gebote ist dann weiter keine besondere Rede mehr.

[3] Doch bei uns ist das >Laß dich nicht gelüsten nach deines Nächsten Weibe!< im neunten Gebot ausgelassen, und es ist daraus ein zehntes Gebot gemacht worden, und noch andere benennen das das neunte und alles andere das zehnte Gebot. Es fragt sich nun zuerst: Hat Moses von Gott doch zehn Gebote oder nur neun erhalten?«

[4] Sagte Ich: »Anfangs, Meine liebe Helias, wahrlich nur neun; später dann, als er gezwungen war, die zerbrochenen ersten steinernen Gesetzestafeln wieder durch neue zu ersetzen, hat er selbst das letzte Gebot in zwei abgeteilt, um das ehebrecherische Begehren nach eines Nächsten Weibe -was die Juden in Ägypten sich sehr zu eigen gemacht hatten und dadurch in beständigem Hader und fortwährender Zwietracht lebten und sich gegenseitig zu Todfeinden wurden - recht anschaulich zu machen, und am Ende setzte er auf den Ehebruch sogar die leibliche Todesstrafe, weil das noch so weise Wort bei den in alle Sinnlichkeiten versunkenen Juden nichts fruchtete.

[5] Und so weißt du nun, wann, wie und warum aus dem letzten, neunten Gebot ein für sich bestehendes zehntes entstand. An der Zahl aber liegt hier ja ohnehin nichts, sondern nur allein an der Sache, und so kannst du hier deine Kritik entweder bloß über das gesamte neunte Gebot oder auch über das gesonderte zehnte Gebot für sich aufstellen. Das hängt nun bloß von dir ab, wie es dir lieber ist. Und du kannst nun schon zu reden anfangen!«

[6] Sagte die Helias: »0 Herr und Meister über alles! Das Reden wäre für meine schon von Geburt aus sehr geläufige Zunge schon gerade recht; aber ich sehe es da auch schon zum voraus ein, daß ich wieder völlig umsonst werde geredet haben. Denn wer kann aus seiner großen Dummheit heraus Dir irgend etwas vorbringen, das Du ihm nicht sogleich tausendfältig widerlegen könntest! Wenn aber das, warum da noch reden?«

[7] Sagte Ich: »Ja siehe, du Meine sonst überaus liebe Tochter, du möchtest wohl auch gern einmal recht haben, wie das schon nahe bei den meisten Weibern der Fall ist; aber es handelt sich hier durchaus nicht um eine eitle Rechthaberei, sondern um den größten Lebensernst, und da müsset ihr mit euren alten Irrtümern von selbst ans Tageslicht treten, damit ihr sie an Meinem wahrsten und lebendigsten Lichte desto vollkommener erkennen möget! Und darum lasse Ich nun dich für alle reden, da Ich nur zu gut weiß, daß du ein sehr gutes und scharfes Gedächtnis besitzest, dazu auch eine sehr beugsame Zunge, und daß eben du durch deinen Rabbi am meisten die Lücken und Mängel am Gesetz und an den Propheten gar wohl kennengelernt hast. Und so rede du nun nur wie zuvor ganz geradeheraus, was dir etwa auch an diesem Gesetze als nicht so ganz in der vollsten und besten Ordnung vorkommen sollte!«

[8] Sagte die Helias: »Herr, so man das tut, was Du willst, begeht man doch sicher keine Sünde, und auf das gestützt, muß ich hier schon ganz offen bekennen, daß ich mit - sage - diesem ganzen neunten Gebote am allerwenigsten und schon eigentlich ganz und gar nicht einverstanden bin, weil all das darin Verbotene jeder klaren Vernunft den reinen Hohn spricht, - erstens, weil alles darin Enthaltene schon ohnehin hinreichend im sechsten und siebenten Gebote enthalten ist, und zweitens, weil dem Menschen darin ganz ordentlich das Denken, Fühlen und Wünschen untersagt ist,

[9] Was liegt denn daran, so irgendein armer Mensch, der sein ganzes Leben hindurch zum Dienen und zur schweren Arbeit um magere Kost und einen schlechten Lohn von Geburt aus verurteilt war, sich auch dann und wann denkt und sogar eine Sehnsucht bekommt, auch einmal ein Haus oder ein liebes Weib oder einen Ochsen oder Esel als Eigentum zu besitzen ?! Denn es wird sein für ihn frommer Wunsch ja ohnehin nie erfüllt werden! Wenn es ihn nach so etwas auch gar nie gelüsten soll, so muß ihm zuvor ja doch das Denken, Fühlen und Empfinden ganz genommen werden.

[10] Wahrlich, es kommt mir dieses alberne Gebot geradeso vor, als so Moses den Menschen den Gebrauch ihrer Sinne und dazu auch ihrer Hände und Füße untersagt hätte, was sich aber noch um vieles bescheidener ausgenommen hätte, als wenn er ihnen die innersten Lebensfunktionen verboten hätte, für die doch wahrlich kein Mensch etwas kann, wenn sie in ihm, durch allerlei Umstände und Verhältnisse geweckt und erregt, vor sich gehen.

[11] Ich will das hier gar nicht mehr in irgendeine Anregung bringen, daß dieses Gebot ganz besonders wahrnehmbar nur für den Mann gegeben ist; allein dieser Grund ist bereits erörtert worden, und man kann da nun schon mit der größten Bestimmtheit annehmen, daß ein jedes Gesetz das Weib ebensogut angeht wie den Mann und es da denn auch für das Weib also gesagt ist: >Du sollst nicht begehren deiner Nächsten Mann!< Das ist im Gesetze sonach alles in der Ordnung; aber daß ein Mensch nicht denken, nicht fühlen, nichts wünschen und auch nichts empfinden soll, - da hört sich aber auch schon alles auf!

[12] Es ist schon wahr, daß in uns allerlei Gedanken, auch allerlei Wünsche, Begehrungen und endlich auch Bestrebungen und Taten guter und böser Art entstehen; aber ohne die vorhergehenden Gedanken, aus denen freilich gar oft schlechte Handlungen entstehen, können auch keine guten Entschließungen und Taten zum Vorschein kommen. Das muß jedem Engel und jedem nur einigermaßen vernünftigen Menschen klar und sehr begreiflich sein. Und so sage ich, daß dieses letzte Gesetz, insoweit es den Menschen schlechte Handlungen verbietet, schon ganz in der Ordnung ist, obschon meines Erachtens überflüssig, weil das, wie schon früher bemerkt, ohnehin durch das sechste und siebente Gebot geschehen ist. Aber es ist ganz und gar nicht in der Ordnung, so es dem Menschen das Denken, Fühlen, Empfinden und ein daraus sicher hervorgehendes leises Wünschen, Gelüsten und Begehren verbietet.

[13] Zum Beispiel ich, meine Eltern und mein Bruder haben unser Vermögen und Besitztum ganz ohne unser Verschulden verloren und haben nun nichts als unser nacktes Leben und durch Deine Gnade, o Herr, die guten Freunde. So wir denn in unserer großen Armut die Reichen und Großen im Überflusse schwelgen sahen, - haben wir da gesündigt, so wir das Begehren in uns fühlten, nur einen ganz kleinen Teil von ihrem Überflusse unser nennen zu dürfen?! So es uns in unserem Hunger auch nicht einmal gelüsten soll, uns von den überfüllten Schüsseln nur dem Gedanken nach einmal zu sättigen, dann hört sich aber schon alles auf!

[14] Zu dem kommt da noch eine große Frage: ob an dem, was die Erde trägt, die eigentlich Gottes Grund und Boden ist, nicht alle in diese Welt ohne ihr Verschulden gesetzten Menschen wenigstens so viel natürliches Recht besitzen sollen, daß sie nur zur Notdurft ihren Leib versorgen können. Warum müssen oder sollen manche Menschen gar so viel ihr eigen nennen, und das unter allem möglichen gesetzlichen Schutze, die allergrößte Zahl dafür aber nichts und muß sich am Ende auch noch das göttliche Gesetz dahin gefallen lassen, daß sie kein Verlangen nach dem haben sollen, was als Überfluß die Großen und Reichen ihr Eigentum nennen? Man nimmt ihnen dadurch ja ohnehin nichts weg; aber wenn man kein notwendiges Verlangen nach dem Überflusse des Reichen haben darf, so darf man ihn als ein Bettler ja auch nicht darum bitten! Denn das Bitten setzt ja notwendig eine durch die Not gezwungene Lüsternheit nach einem Teile des Besitzes des reichen Nächsten voraus.

[15] Wir Armen dürfen demnach nur zu den Besitzern kommen und sie um eine Arbeit bitten und uns dafür mit dem noch so schmalen Lidlohne (Anm.: Gesindelohn) völlig zufrieden geben, da jedes weitere Verlangen eine gesetzwidrige Lüsternheit nach dem wäre, was des reichen Nächsten ist und er sein nennt. 0 Herr und Meister, das kann ein höchst liebevoller Schöpfer nie und niemals also gewollt und also angeordnet haben! Das können nur schon von alters her habsüchtige Menschen unter dem Titel der Vorsehung Gottes also gewollt und gemacht haben, auf daß wir Armen sie auch nicht einmal mit unseren Gedanken in ihrem Besitze stören sollen.

[16] 0 Herr und Meister, der Du so überweise und allmächtig bist, - was sagst Du nun dazu? Denn ich habe geredet nun und habe dargestellt, was ich an diesem letzten Grundgesetz als nach meinem menschlichen Verstande überaus mangelhaft gefunden habe, freilich infolge von dem, was ich von meinem Rabbi bekommen habe. Oh, gib Du uns allen darüber nun ein rechtes Licht; denn ich denke mir, daß eben dieses gar nicht möglich zu haltende Gesetz die Menschen am meisten zu allerlei Sünden und anderen Verbrechen verleitet hat, weil ich nur zu gut weiß, daß eben dieses letzte Gesetz beinahe von allen verständigeren Juden als ein nicht göttliches erkannt wird! Oh, öffne Deinen heiligen Mund und gib uns Deinen Willen kund!«

 

36. Die Wichtigkeit der Gedankenüberwachung.

[1] Sagte Ich: »Du bist ja ein ganz entsetzlich scharf verständiges Wesen und hast das letzte Mosaische Gesetz gar scharf angegriffen! Ja, ja, manchmal sind die Kinder der Welt klüger als die Kinder des Lichtes; sie sehen oft eher das Eckige einer Lehre denn die Kinder des Lichtes. Doch auch bei diesem letzten Gebote hast du dich, ungeachtet der großen Schärfe deines Verstandes, geradeso verhauen wie bei den früheren.

[2] Du kannst denken, was du willst, so kannst du dadurch nicht sündigen, so dein Herz an einem unordentlichen Gedanken kein Wohlgefallen findet. Findest du aber an einem schlechten Gedanken ein Wohlgefallen, so verbindest du auch schon deinen Willen mit dem schlechten, aller Nächstenliebe baren Gedanken und bist nicht ferne davon, solchen Gedanken, der einmal schon von deinem Wohlgefallen und von deinem Willen belebt worden ist, in

Tat übergehen zu lassen, wenn dir die Umstände günstig erscheinen und die Tat ohne äußere Gefahr zulassen. Daher ist die weise Überwachung der im Menschenherzen vorkommenden Gedanken durch das geläuterte Licht des Verstandes und der reinen Vernunft ja doch von der höchsten Wichtigkeit, weil der Gedanke der Same zur Tat ist, und es könnte die notwendige und weise Überwachung der Gedanken wahrlich nicht trefflicher ausgedrückt sein als eben dadurch, daß da Moses sagt: >Laß dich nicht gelüsten nach diesem und jenem!< Denn so es dich einmal stark zu gelüsten anfängt, so ist dein Gedanke schon belebt durch dein Wohlgefallen und durch deinen Willen, und du wirst dann deine Not haben, solch einen belebten Gedanken in dir völlig zu ersticken. Der Gedanke, und die Idee, ist ja, wie früher gesagt, der Same zur Tat, die da die Frucht des Samens ist. Wie aber der Same, so dann auch die Frucht!

[3] Du kannst daher denken, was du willst; aber belebe keinen Gedanken und keine Idee eher zur Frucht, als bis du ihn vor dem Richterstuhle deines Verstandes und deiner Vernunft gehörig durchgeprüft hast! Hat der Gedanke da die Licht- und Feuerprobe bestanden, dann erst kannst du ihn zur Frucht oder Tat beleben, und es kann dich da dann schon gelüsten nach etwas Gutem und Wahrem; aber nach etwas Unordentlichem, das offenbar wider die Nächstenliebe geht, soll es dich nicht gelüsten! Und darin liegt das, was Moses in seinem letzten Gesetze ausgedrückt hat, und es liegt darin wahrlich wohl nie und nirgends der Widerspruch mit den inneren Lebensfunktionen, den du mit Hilfe deines scharfsinnigen Rabbi willst gefunden haben. Was soll, ja was kann aus einem Menschen werden, wenn er nicht schon frühzeitig lernt, seine Gedanken zu prüfen, zu ordnen und alles Unreine, Böse und Falsche aus ihnen zu scheiden? Ich sage es dir, solch ein Mensch würde schlechter und böser werden denn ein allerreißendstes und bösestes Tier!

[4] In der guten und weisen Ordnung der Gedanken liegt ja der ganze Lebenswert eines Menschen. Wenn nun Moses zur Regelung der Gedanken, Wünsche und Begierden auch ein Gebot gab, - kann da ein ganz weise sein wollender oder sein sollender Rabbi ihn dahin verdächtigen, als hätte er ein solches am allermeisten zu berücksichtigende Gebot nicht vom wahren Geiste Gottes empfangen? Siehe, siehe, du Meine liebe Tochter, wieweit sich da dein Rabbi verstiegen hat!«

 

37. Armut und Reichtum.

[1] (Der Herr:) »Daß die Güter dieser Erde sehr ungleich verteilt sind, und daß es Reiche und Arme gibt, das ist schon also der weise Wille Gottes, und Er läßt darum auch solch ein Verhältnis unter den Menschen bestehen, weil ohnedem auch die Menschen schwer oder auch gar nicht bestehen könnten.

[2] Denn stelle dir einmal die Sache also vor, daß da ein jeder Mensch auf der ganzen Erde schon von Geburt an mit allem also versorgt wäre, daß er von keinem andern nur ein Geringstes mehr benötigen würde, so würde er nur zu bald den Tieren des Waldes und den Vögeln der Luft gleich leben. Diese bauen sich keine Häuser, bebauen keine Felder und Weinberge und haben nicht not, für ihre Bekleidung zu sorgen. Und hätten sie auch in ihren Höhlen und Nestern hinreichend Nahrung, so würden sie diese auch nie verlassen, sondern sie würden gleich den Polypen im Meeresgrunde ruhen und fressen, wenn sie einen Hunger verspürten. Aber weil die Tiere ihren Fraß erst suchen müssen, so sind sie voll Bewegung und ruhen erst dann, wenn sie ihren Hunger gestillt haben.

[3] Und siehe, also hat es Gott besonders unter den Menschen gar sehr weise eingerichtet, daß Er die irdischen Güter unter sie sehr ungleich verteilt und sie auch mit sehr verschiedenen Talenten und Fähigkeiten ausgestattet hat! Dadurch ist ein Mensch dem andern ein unerläßliches Bedürfnis. Der Reiche ist gewöhnlich für eine schwerere und doch höchst notwendige Arbeit nicht sehr dahin eingenommen, daß er selbst seine Hände daran legte; aber er hat eine Freude daran, daß er alles nach seinem Wissen und nach seinen gemachten Erfahrungen anordnet und seinen Knechten und Mägden anzeigt, was sie zu tun und zu arbeiten haben. Diese legen dann ihre Hände ans Werk und arbeiten nun und dienen willig dem Reichen um den bedungenen Lohn. Und damit sie sich etwa aus Liebe zum Selbstreichsein und zum Wohlleben nicht am reichen Dienstgeber vergreifen können, so schütze

diesen die weltlichen wie auch die göttlichen Gesetze, freilich nur bis zu einem gewissen Maße, über das auch für die Reichen gar scharfe und weise Gesetze gegeben sind.

[4] Also braucht der reiche Besitzer auch allerlei Professionisten. Er muß zum Schmied kommen, zum Zirnmermann, zum Maurer, zum Schreiner, zum Töpfer, zum Weber, zum Schneider und zu noch gar vielen anderen, und so lebt einer von dem andern, weil einer dem andern dient. Und nur auf diese Art kann das Menschengeschlecht auf der Erde erhalten werden und könnte sehr gut bestehen, wenn sich so manche nicht auf eine gar zu übermäßige Habsucht und Herrschgier geworfen hätten. Doch diese werden von Gott stets scharf heimgesucht und schon auf dieser Welt gezüchtigt, und ihr gerecht zusammengeraffter Reichtum geht höchstens bis auf die dritte Nachkommenschaft über.

[5] Du siehst daraus, daß es in der Welt Arme und Reiche geben muß, und so kannst du auch schon einsehen, daß Moses das letzte Gesetz nicht lückenhaft sondern so vollständig wie nur immer denkbar den Juden und durch sie allen Menschen gegeben hat, und daß eben in diesem Gesetze erst die wahre, innere Vollendung der reinen Nächstenliebe und des Geistes der Barmherzigkeit im Menschenherzen zugrunde liegt.

[6] Wenn aber das unleugbar der Fall ist, so ist darin auch die Bedingung enthalten, daß ein jeder zur wahren Reinigung seiner Seele eben dieses letzte Gesetz sehr beherzigen und auch gar sehr und vollkommen beachten soll. Denn solange ein Mensch nicht völlig Herr seiner Gedanken wird, solange wird er auch nicht Herr seiner Leidenschaften und der daraus hervorgehenden Tätlichkeiten. Wer aber da nicht Herr und Meister in sich und über sich ist, der ist noch ferne vom Reiche Gottes und ist und bleibt ein Knecht der Sünde, die aus seinen unordentlichen Gedanken und daraus hervorgehenden Begierden geboren wird und den ganzen Menschen verunreinigt. - Hast du das nun wohl verstanden? Nun ist wieder an dir die Reihe, zu reden.«